Gedankensplitter – Leid enthüllen

Vor einigen Jahren machte ich einen Ausflug auf die Insel Werd. In Ruhe wollte ich vor Gott bringen, was mich beschäftigte. Es war Karwoche und ich setzte mich in der stillen Kapelle in eine Bank und schaute zum Kreuz empor. Es war verhüllt. Das gab mir irgendwie „einen Stich“ ins Herz. Ich wollte auf das Kreuz schauen, aber es war verdeckt. Verdecktes Leid.

Verdecktes Leid, das mir so oft begegnet. Langzeitkranke, unbemerkt zuhause in ihren vier Wänden, Einsame und Armutsgefährdete, die sich schämen ob ihrem Zustand. Traumatisierte Menschen, die nicht wissen wohin mit ihrer Geschichte. Unterschwellige oder offene Aggression, die Familien und Beziehungen erstickt. Verdecktes, verhülltes Leid, dessen Schrei nicht hörbar ist, nicht gehört wird. Wie sehr sehne ich mich da nach dem enthüllten Kreuz, nach Christus, dessen Leid in die Welt schreit, der dem Leid einen Namen gibt. Dieses Erlebnis hat mir gezeigt, was es mir bedeutet, Christi Leid am Kreuz nicht zu verstecken. Seinen Schrei am Kreuz zu hören und zu ertragen: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.»

Ein Interview mit der deutschen Pastorin Susanne Jensen, die in ihrer Kindheit brutalsten sexuellen Missbrauch erlebt hat, konnte ich so neu verstehen. Sie sagt: «Ich hatte das tiefe Gefühl, dass es für mich etwas bedeutet, dass Gott am Kreuz gestorben ist. Das Kreuz vermittelt mir, dass Gott mich sieht. Dass es keinen gottverlassenen Ort gibt auf dieser Erde, wo er nicht ist.» Gott gibt dem Leid ein Gesicht und enthüllt es so. Wenn wir am Karfreitag das Leid enthüllen, geschieht für mich genau dies: Gott gibt dem Leid ein Gesicht. Seither ist für mich der Karfreitag immer auch der Tag, an dem ich dem Leid bewusst ein Gesicht geben will. Es ruft mir in Erinnerung, die Augen nicht zu verschliessen und mich abzuwenden, weil es nicht zum Aushalten ist. Krieg, Verwüstung, Missbrauch. Das ist möglich mit dem Blick auf Christus. Nicht ich trage das Leid, er trägt es durch alle Zeiten hindurch mit.

Susanne Jensen sagt: «Ich kriege kein neues Leben, ich kriege keine neue Seele, die kann man nicht austauschen. Stattdessen kommt Gott als Du in mein Ich, in die Existenz, die ich bin.» An Karfreitag enthüllen wir das Kreuz. Wir sind eingeladen, verdecktes Leid zu enthüllen. Ihm einen Platz zu geben am Kreuz. Und Gott zu bitten, dass er als Du in unser Ich, in unsere Welt kommt. 

Ein paar Tage später besuchte ich wieder die Insel Werd. In der Stille der Kapelle schaute ich zum Kreuz empor. Es war enthüllt. Ein weisser Schleier umhüllte es, ohne es zu verdecken. Auferstehung.

Bernadette Peterer, Pfarreiseelsorgerin

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Quelle: Pixabay